Ein aktuelles Beispiel dafür, wie schnell ein Rechtsstaat ins Wanken geraten kann, sind die letzten chaotischen Tage der Präsidentschaft von Donald Trump. Der Begriff der Wahrheit wurde von Trump über viele Jahre hinweg neu interpretiert, seine Realität wurde zum Ideal, alles andere zu Fake News. Durch eine von 80 Millionen Followern unterstützte Twitter-Kommunikation und dem Präsidenten wohlgesinnte Medien konnten nachhaltig vermeintliche Gefahren heraufbeschworen werden und seine Anhänger waren überzeugt, dass diese Gefahren bekämpft werden müssen. Trump hatte sich als Vertreter des Volkes gegen das Establishment aufgelehnt, er hatte sich als starker Mann etabliert und dadurch bei vielen Bürgern die Sehnsucht nach Kontrolle geweckt. Ein Teil der amerikanischen Bevölkerung identifizierte sich offenbar so stark mit Trump und seiner Infragestellung der Wahlergebnisse, dass eine Gruppe von Anhängern sogar den Sturm des Kapitols und damit eine Rebellion gegen die Verfassung in Angriff nahm. Gleichzeitig hatte dies auch eine starke symbolische Bedeutung. Psychoanalytiker finden hier Parallelen zum heimlichen Wunsch nach Vatermord, den Freud in seiner Abhandlung „Totem und Tabu“ beschreibt. Der Held, in diesem Fall der Vater Staat, der uns ursprünglich den Frieden gebracht hat, wird von Trump-Anhängern als Schuldiger am plötzlichen Leid des Volkes identifiziert und wird dafür durch die Rebellion bestraft.
BEDEUTUNG UND AKZEPTANZ VON REGELN
Woher kommt es, dass wir uns überhaupt an Regeln halten? Das beginnt schon in der Kindheit, wenn die Eltern uns beibringen, welches Verhalten erwünscht ist und welches nicht. Verbote und entsprechende Regeln auf der einen Seite und die Einhaltung von Geboten, erwünschten Verhaltensweisen inklusive Belohnungen auf der anderen Seite. So wie der Freiraum, der dem Kind gelassen wird, schafft ein gesunder Rechtsstaat und seine Rechtsordnung Raum für das Individuum und seine kulturelle Entfaltung. Ein funktionierender Rechtsstaat und seine Regeln hängen von mehreren Faktoren ab, von denen drei wichtige Kategorien genannt werden. Erstens: Regeln funktionieren und werden eingehalten, wenn wir uns im gesetzten Recht identifizieren können und uns klar ist, dass diese Regeln Sinn machen. Zweitens: Wenn Regeln nicht eingehalten werden, müssen Sanktionen verhängt werden. Drittens: Die Regeln müssen für alle gleichermaßen gelten. Überall dort, wo Korruption oder totalitäre Regierungsformen herrschen, ist die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit offensichtlich. Persönliche Macht wird dann höher gewichtet als eine funktionierende Legislative, Judikative und Exekutive. Geld und Macht haben in korrupten Systemen einen höheren Stellenwert als die Rechtsstaatlichkeit. Denn Korruption ist der Feind von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und bringt uns zurück in ein chaotisches Umfeld, in dem Blutrache das Leitprinzip der menschlichen Gesellschaft war. Menschen können nur dann geordnet zusammenleben, wenn für alle klar ist, nach welchen „Regeln“ gespielt wird – und wenn sich alle Menschen an diese sinnvollen und sanktionierten Regeln halten.
EIN GESUNDER RECHTSSTAAT SICHERT WÜRDE UND FRIEDEN
Im Nachwort zu der Serie „Schuld“ des deutschen Schriftstellers und Strafrechtlers Ferdinand von Schirach sagt der Protagonist: „Die Schuld eines Menschen ist schwer zu wiegen. Wir streben unser ganzes Leben lang nach Glück. Aber manchmal verlieren wir uns selbst und die Dinge gehen schief. Dann trennt uns nur das Gesetz vom Chaos. Eine dünne Eisschicht, darunter ist es kalt und man stirbt schnell.“ In diesem Satz steckt die Rolle des Rechts. Diese feine Linie zwischen einem stabilen Leben in Frieden und Harmonie auf der einen Seite und dem Chaos auf der anderen Seite. In diesem Zitat wird deutlich, wie anfällig wir Menschen für Konflikte und Störungen sind, die uns aus der Bahn werfen können und wie wichtig die stabile Mauer eines funktionierenden Rechtsstaates für jeden Einzelnen und seine Würde ist. Der Begriff der Würde hat in Artikel 1 (1) des Grundgesetzes eine herausragende Bedeutung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
In dem Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud aus dem Jahr 1932 geht es um das Verständnis und die Bedeutung des Rechts im Sinne eines Friedensphänomens. Darin meint Freud: „Das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft.“ Freud sieht das Recht als einen wesentlichen Baustein in der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Erst das Recht gab den Menschen die Möglichkeit, sich auf eine stabile äußere Struktur zu verlassen. Der Umgang mit Konflikten trat in eine neue zivilisierte Phase ein, als die Blutrache der Menschen durch die Einführung des Gerichts ersetzt wurde. Die friedliche Bewältigung von Konflikten war fortan eine Errungenschaft, bei der sich die Menschheit auf die Rechtswissenschaft als Fundament stützen konnte. Eine Mauer der Sicherheit, die einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum selbstbestimmten Individuum darstellt. Hüter dieser kollektiven Stabilität ist der Rechtsstaat mit seiner Gewaltenteilung zwischen der Jurisdiktion, der unabhängigen Gerichtsbarkeit, den Exekutivorganen, also der Regierung und ihren Befugnissen, und der Legislative, also dem Parlament. Die Mauern der Sicherheit und Stabilität haben sich zugunsten der Bevölkerung verschoben, was zu einem friedlicheren Zusammenleben als in der Vergangenheit geführt hat. Die Gewalt wurde durch Gesetze verringert, so dass das Recht Autonomie, Koexistenz und Frieden gewährleistet.
DER RECHTSSTAAT ALS SICHERER RAHMEN FÜR ALLE BÜRGER
In den letzten Jahrzehnten ist es für große Teile der Menschheit fast normal geworden, diese starke Mauer aus Menschenrechten, vollem Zugang zu unseren Grundrechten, kollektiver Sicherheit und individueller Freiheit zu haben. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein sicherer Rahmen, die äußere Mauer, innerhalb derer wir uns bewegen und entwickeln können. Die Regeln des Rechtsstaates setzen der Gesellschaft und jedem Einzelnen sichtbare Grenzen. Jeder Versuch, aus dem Korsett der Gesetze auszubrechen, wird eingeschränkt und manchmal sogar bestraft. Die Funktionen von Regeln im Rechtsstaat sind denen in der Familie ähnlich. In einem sozialen Netz ohne Regeln aufzuwachsen, ist für Kinder eine große Belastung. Der Rechtsstaat und seine Exekutive zeigen den Menschen klare Grenzen auf. Der Staat hat ein Gewaltmonopol. Er entschädigt für erlittenes Unrecht und ersetzt das Instrument der Rache. Der Bürger hat ein Gespür für Unrecht gelernt, sodass er unterscheiden kann, was erlaubt ist und was nicht.
Kann das Recht uns vor der Macht und der Gewalt des Chaos schützen, die überall drohen? Ja, weil wir das Recht brauchen, um Interessenkonflikte gewaltfrei ausgleichen zu können. Ein verständliches und akzeptables Rechtssystem trägt folglich auch die kulturelle Entwicklung in sich. Die Nutznießer des Rechtsstaates sind wir Bürger. Das Recht schafft das Gleichgewicht zwischen Gewalt, Aggression und Lebensfreude und trägt somit wesentlich dazu bei, dass sich die Gesellschaft trotz enormer Störungen verändern und weiterentwickeln kann.