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Westbalkan aus dem Blickfeld der EU?

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Die Zukunft der Westbalkanstaaten liegt in der Europäischen Union. Obwohl der Erfolg des Erweiterungsprozesses geostrategisch für beide Seiten enorm wichtig wäre, sind die Risiken eines Scheiterns viel größer als die Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt.

Das erste Gipfeltreffen zwischen der EU und den Westbalkanstaaten, das im Juni 2003 in Thessaloniki unter dem griechischen EU-Vorsitz stattfand, hat Hoffnungen und politischen Willen geweckt. Die Schlussfolgerungen des Gipfels besiegelten die eindeutige Unterstützung der EU für die europäische Perspektive der Westbalkanstaaten, die auf den gemeinsamen Werten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte, Solidarität und Marktwirtschaft beruht. Die EU und die Regierungen der betroffenen Länder bekräftigten ihr Engagement für die Einhaltung des Völkerrechts, die Gewährleistung der Unverletzlichkeit internationaler Grenzen, die friedliche Lösung von Konflikten und die regionale Zusammenarbeit.

Die Westbalkanstaaten verpflichteten sich, Reformen durchzuführen, um die EU-Beitrittskriterien zu erfüllen. Die Aussicht auf die Mitgliedschaft in einer gemeinsamen europäischen Wertefamilie sorgte für Begeisterung und gab den Anstoß für Veränderungen in der Region. Gleichzeitig wirkte die EU-Perspektive wie ein Katalysator für die Bewältigung der Herausforderungen, bei denen wichtige Fortschritte erzielt wurden. Das Prespa-Abkommen zwischen Griechenland und Nordmazedonien ist ein Beispiel dafür. Es war für beide Seiten ein komplexer Prozess, doch die Aussicht auf eine Zusammenarbeit innerhalb einer erweiterten europäischen Familie gab beiden Ländern die politische Kraft, diesen schwierigen Schritt zu tun.

Und doch stehen die Westbalkanstaaten, mit Ausnahme Kroatiens, fast zwei Jahrzehnte nach dem Gipfel von Thessaloniki immer noch auf der Warteliste der EU. Auf die ersten Jahre der Begeisterung folgten ein Mangel an Dynamik und eine harte Realitätsprüfung, die zu Enttäuschung, Frustration und Pessimismus führten. Die Tatsache, dass die Fortschritte auf dem Weg zum EU-Beitritt nicht belohnt wurden, trug dazu bei, ethnozentrische Impulse und nationalistische Nostalgie zu schüren, die Glaubwürdigkeit der EU in der öffentlichen Meinung zu beschädigen und die antieuropäische Stimmung in der Region zu verstärken.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass vor allem immer mehr junge Menschen glauben, dass die EU-Perspektive niemals verwirklicht werden wird. Die europäische Vision verliert ihren Glanz. An ihre Stelle ist der Nationalismus getreten. Ein Trend, der nicht nur auf dem Balkan zu beobachten ist. Nationalistische und fremdenfeindliche Stimmungen sind in vielen Teilen innerhalb wie auch außerhalb Europas zu finden, was möglicherweise auf ähnliche Gründe zurückzuführen ist: Das Versagen der globalen Zusammenarbeit bei der wirksamen Bewältigung von Ungleichheit und sozialem Schutz, Bevölkerungsbewegungen sowie von Gesundheits- und Umweltkrisen.

In den Westbalkanstaaten gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied. Die Wunden der blutigen Konflikte sind noch frisch und können leicht wieder aufleben, wenn extreme nationalistische Rhetorik in der Öffentlichkeit die Oberhand gewinnt. Darüber hinaus war die Geschichte des Balkans oft geprägt von Stellvertreterkriegen, die die ethnische Spaltung, die Abhängigkeit von Schutzmächten und schwachen Institutionen, welche Klientelismus und Korruption begünstigen, vorantrieben. Während die europäischen Aussichten zu schwinden schienen, stellen wir zunehmend eine neue Geopolitisierung der Region fest, bei der dritte Parteien um Einfluss wetteifern und die bestehenden Kluften vertiefen. Dieser Trend könnte sich noch verstärken, da der Westbalkan insbesondere durch die Folgen des Krieges in der Ukraine zu einem Raum geopolitischer Gegensätze zu werden droht, der Instabilität in die EU bringen könnte. So nutzen inzwischen eine Reihe von externen Akteuren eine Mischung aus Wirtschaftsinvestitionen und Soft Power, um politischen Einfluss in der Region zu erlangen.

Da die Investitionen der EU-Länder in der Region begrenzt sind, versuchen die Westbalkanstatten in vielen Fällen, Investitionen aus Drittländern wie China anzuziehen. In den letzten zehn Jahren hat China 2,4 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen in den Westbalkanstaaten getätigt und 6,8 Milliarden Dollar an Infrastrukturkrediten vergeben. China finanziert im Rahmen seiner „Belt and Road Initiative“ vorzugsweise Großprojekte wie Autobahnen, Eisenbahnen oder Kraftwerke und erwarb zudem wichtige Anteile an mehreren wichtigen Verkehrs- und Energieunternehmen. Neben massiven Investitionen und Krediten nutzt China aber auch Soft-Power-Instrumente wie wissenschaftliche Kooperationen oder Impfdiplomatie, um seine Position zu stärken.

Obwohl die Russische Föderation seit der illegalen Annexion der Krim wirtschaftlich weniger Einfluss in der Region hat, behält sie dennoch ihren Einfluss in strategischen Sektoren wie Energie, Banken, Metallurgie und Immobilien. In den letzten Jahren hat auch die Türkei über Institutionen wie die Maarif-Stiftung in Ländern mit einer großen muslimischen Gemeinschaft Kultur- und Bildungsprogramme angeboten und in Projekte wie Autobahnen, Brücken, Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und die Restaurierung von Gebäuden aus dem osmanischen Erbe investiert. Diese „Soft Power“ der Türkei in der Region wird durch die Beliebtheit der türkischen Kultur, insbesondere bei Fernsehsendungen und der Unterhaltungsindustrie, bei bestimmten Bevölkerungsgruppen verstärkt.

Es ist also an der Zeit, dass die EU den Erweiterungsprozess beschleunigt, indem sie die Verhandlungen mit Serbien und Montenegro wieder aufnimmt, mit Albanien und Nordmazedonien beginnt, Bosnien und Herzegowina den Kandidatenstatus gewährt und die Einreisevisa für den Kosovo liberalisiert. Diese Region darf nicht aus dem Blickfeld geraten, auch wenn sich in der Zwischenzeit die Notwendigkeit ergeben hat, die europäischen Bestrebungen anderer Länder wie der Ukraine, Georgiens und der Republik Moldau zu unterstützen.

In diesem neuen Kapitel der europäischen Geschichte wird noch deutlicher, dass die Unterstützung demokratischer Reformen, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, die Aussöhnung und gutnachbarschaftliche Beziehungen eine geostrategische Investition in Frieden, Stabilität und Sicherheit für den europäischen Kontinent darstellen. Deshalb ist es nicht nur für die betroffenen Länder, sondern für ganz Europa so wichtig, auf die EU-Beitrittsbestrebungen der Westbalkanstaaten einzugehen.

Fazit: Europa sollte sich nicht seiner historischen Verantwortung entziehen, den europäischen Integrationsprozess der Westbalkanstaaten bis zur Ziellinie zu begleiten und muss verhindern, dass die Region zu einem Schlachtfeld für geopolitische Auseinandersetzungen zum Nachteil ihrer Bewohner wird.

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